Himmlicher Klang aus 40 Kehlen
„When the mountain changed its clothing" auf der Ruhrtriennale 2012

Die Ruhrtriennale 2012 geht an diesem Wochenende zu Ende. Rund 50.000 Zuschauer haben in diesem Jahr die Vorstellungen, Performances, Konzerte, Lesungen, Events und Ausstellungen des wichtigsten Theater- und Kunstfestivals in Deutschland verfolgt. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und das Interesse der Medien waren groß, weil in diesem Jahr mehr Spielstätten als die ursprünglich historischen Industriebauten hinzugekommen sind und das Festival auch regional in die Breite gegangen ist. Besonders bemerkenswert: Die Performances der "12 Rooms" im Folkwang Museum Essen, das in diesem Jahr das erste Mal mit dabei war.

Heiner Goebbels hinterlässt mit der letzten Produktion des Festivals "When the mountain changed its clothing" seine Duftmarke und schürt auch bereits Erwartungen für das kommende Jahr. Seine Handschrift ist unübersehbar. Goebbels setzt auf neue und moderne Formen, die Musiktheater, klassisches Theater, Performance und bildende Kunst miteinander vermischen. Manches war in diesem Jahr experimentell angelegt, manches ist nicht so gelungen wie man es sich erhofft hat, manches hat völlig neue Erlebnisse und Erfahrungen ermöglicht.

Auch mit seiner Abschlussproduktion "When the mountain changed its clothing" bewegt sich Goebbels gekonnt inmitten verschiedener Genres. Was dabei formal und handwerklich mit Bravour gelungen ist, hinterlässt inhaltlich aber zumindest viele Fragen und eine gehörige Portion Skepsis.  Eines vorweg: Die Mädchen und jungen Damen des "Vocal Theatre Carmina Slovenica" machten nicht nur einen guten Job, sie überzeugten durch das nahezu perfekte Zusammenspiel des gesamten Teams, durch ihre mitreissende Spielfreude und nicht zuletzt mit ihren Stimmen, die in den allerbesten Momenten zu einem einzigen himmlichen Klang zusammenschmolzen. Bravo!!!!

Das Stück thematisiert - so die programmatische Ankündigung - den Umbruch, in dem sich die 40 Mädchen der "Carmina Slovenica" im Alter von zehn bis 20 Jahren aus Maribor befinden. Sie konfrontieren uns mit Geschichten und Fragen zum Abschied von ihrer Kindheit. Das Alte ist nicht mehr, das Neue noch nicht greifbar. An dieser Schwelle finden sie sich zusammen zu scheinbar harmlosen Spielen, Versen, Gesängen und schaffen poetische, bedrohliche Bilder. Im Wechselspiel zwischen Souveränität und Repression bewegen sich die jungen Sängerinnen durch den Zyklus der Jahreszeiten und balancieren die Machtverhältnisse stetig neu aus - untereinander und vor allem zwischen Publikum und Bühne. Goebbels stellt an zentraler Stelle die Frage "Wovon träumen die jungen Mädchen?"  -  Seine verschlüsselte metaphorische Antwort: "Vom Messer und vom Blut."

Doch genau hier scheiden sich die Geister. Denn das Konzept ist eines, das allein aus einer Metaebene und aus der Sicht eines Erwachsenen der Kindheit und Jugend übergestülpt wird. Die vielen jungen Zuschauer, die von ihren Eltern oder Lehrerinnen und Lehrern in die Aufführungen mitgebracht wurden, werden sich gewiss verwundert und teils ratlos die Augen reiben und  - nicht wirklich verstanden fühlen. Denn auch wenn sie sich im Kern mitunter mit existenzialistischen Fragen beschäftigen, die in den Textsplittern von Jean-Jacques Rousseau, Joseph Eichendorff, Albert Stifter, Gertrude Stein, Alain Robbe-Grillet, Marlen Haushofer, Marina Abramovic und Ian McEwan aufblitzen, ihre Lebenswelt ist eine völlig andere. Selbst die Welt der 40 Sängerinnen ist eine andere, gerade da wo sie von den gesellschaftlichen Umbrüchen und Unsicherheiten ihres Heimatlandes bestimmt werden.

Die Welt der Kinder und Jugendlichen hierzulande ist doch wohl eher von ganz profanen und aktuellen Träumen und Sorgen überlagert: Da stehen Ängste vor der Zukunft im Vordergrund, die Sorge um schulische Leistungen und Abschlüsse, die Unsicherheiten um Anerkennung, Liebe und Sex, die Begeisterung für Musik und Mode, das Mitfühlen der Kandidaten bei DSDS und die Wut auf die Erwachsenen und ihre Eltern, die ihnen  einfach so eine völlig verkorkste Umwelt, die drohende Klimakatastrohe und die mittlerweile kaum mehr zu zähmenden Finanzmärkte hinterlassen.

Gemeinsam mit den Sängerinnen und seinem künstlerischen Team hat Heiner Goebbels des ungeachtet ein Szenario erarbeitet, in dem die Mädchen ständig zwischen einem Klischée kindlicher Unschuld und Unberechenbarkeit schwanken. So also stellen sich die Erwachsenen vor, was junge Menschen heute bewegt. Nachvollziehbar, dass der Funke nicht so recht übersprang ins Publikum. Es bewegte sich viel auf der Bühne, bei blitzschnellen Bilderwechseln und gekonnten Choreographien, aber das war nicht wirklich bewegend. Schade.

Den jungen Sängerinnen ist dies nicht anzulasten. Sie waren hinreissend als Team und charmant in ihren Erscheinungen. Unter der künstlerische Leitung der Dirigentin Karmina Šilec hat sich das "Vocal Theatre Carmina Slovenica" zu einem international gefragten Klangkörper der Region entwickelt. Mit seinem großen Repertoire von mittelalterlicher über folkloristische bis hin zu zeitgenössischer Musik ist er mit seinen Konzerten weltweit zu Gast. "Vocal Theatre Carmina Slovenica" beeindruckt sowohl mit der großen musikalischen und choreografischen Präzision als auch mit dem selbstbewussten Auftreten der jungen Sängerinnen. Die Musik zu "When the mountain changed its clothing" stellt dabei Chormusik aus dem Repertoire von "Carmina Slovenica" neben Partisanengesänge aus der Tito-Zeit und Popmusik. Ungehörte Weisen in brillanter Vorführung. Das hat viel Spass gemacht. (Jörg Bockow)

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