In Kontakt mit dem eigenen Körper
Biodynamik: Körperpsychotherapie nach Gerda Boyesen
Die Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin Gerda Boyesen (1922 in Bergen, Norwegen geboren und am 29. Dezember 2005 in London gestorben) hat in den 60er Jahren mit der Biodynamischen Psychologie Grundlagen für eine neuartige körperbezogene Psychotherapie entwickelt. Neben berühmten und schulbildenden Kollegen wie Carl Rogers, Karlfried Graf Dürckheim, Alexander Lowen, John Pierrakos, David Boadella, Horst Eberhard Richter, Fritz Perls, Ruth Cohn und Virginia Satir gehört sie damit weltweit zu anerkannten Leitfiguren der modernen Psychotherapie.

Die von ihr begründete Biodynamische Psychotherapie gilt – je nach Ansatz und Perspektive – als bedeutungsvolle Ergänzung, Weiterentwicklung oder auch als Alternative zu Techniken und Methoden der klassischen psychotherapeutischen Schulen. Ihren theoretischen und methodischen Hintergrund bildeten die frühen Libidotheorien Sigmund Freuds, die Jungsche Tiefenpsychologie, die Reichsche Orgonomie und Vegetotherapie sowie die dynamische Physiotherapie nach Aadel Bülow-Hansen.

Die Vegetotherapie nach Wilhelm Reich hat Gerda Boyesen sowohl als Klientin und später auch als Schülerin bei dem Reich-Schüler Ola Raknes kennen gelernt.
Sie war in den 60er Jahren eine der ersten Reichschen Körpertherapeuten in London und hat ihre Form der Vegetotherapie als integralen Bestandteil ihrer Behandlungsform der Nachwelt überliefert. Körperarbeit hat Gerda Boyesen durch eine physiotherapeutische Ausbildung in der Psychiatrischen Klinik (Ulleval Klinik, Oslo) bei Bülow-Hansen, einer Schülerin von Trygve Braatöy erlernt.
Ihrem Selbstverständnis nach versöhnt die Biodynamische Psychologie die scheinbar gegensätzlichen Paradigmen der von Sigmund Freud begründeten Seelenlehre und der von Wilhelm Reich entwickelten körperbezogenen Charakteranalyse.

Die Psychologin Gerda Boyesen ist eine der ersten Körperpsychotherapeuten, die davon überzeugt ist, dass die Seele ohne ihre körperliche Verwurzelung nicht angemessen verstanden werden kann. In ihrer therapeutischen Arbeit vertraut sie – übrigens anfänglich noch weitgehend unabhängig und unbeeinflusst von den Ansätzen der Humanistischen Psychologie – auf die Selbstheilungskräfte des Menschen, die auf Homöostase gründet. Nach ihr wirken im Menschen sowohl selbstheilende Fähigkeiten des Organismus, als auch die selbstregulativen Funktionen der Psyche, die durch die Unterstützung eines erfahrenen und einfühlsamen Therapeuten zu einer Lösung seelischer Konflikte und zu körperlich-seelischer Entspannung führen.

Bei der Biodynamischen Psychotherapie nach Gerda Boyesen handelt sich um ein wissenschaftlich anerkanntes, nicht provozierendes, tiefenpsychologisch orientiertes Verfahren. Die Therapie ermöglicht über den Körperkontakt (Psychodynamische Massage, Deep-Draining etc.) einen Zugang zu tieferen zum Teil verschütteten Schichten der Persönlichkeit. „Dabei wird die Massage zum analytischen Prozess“, erklärt Gerda Boyesen. Frühe Verletzungen aus der vorsprachlichen Entwicklungszeit können dabei sanft und gänzlich „schmerzfrei“ offengelegt und anschließend abgearbeitet werden. Ziel ist es, den organischen Kreislauf wieder in Gang zu setzen. Der Patient soll, nach den Vorstellungen Gerda Boyesens, wieder in „Kontakt zu seinem Körper kommen“ und im ungehinderten Fluss seiner Libido-Energien das Gefühl von Glück und Lebensfreude erleben dürfen. Hinter all dem steht die von Freud inspirierte und gleichzeitig transformierte metaphysische Vorstellung, dass ein Mensch, der mit sich im Reinen ist, anknüpft an die kindliche Identität, die „in Kontakt mit dem Ozean der kosmischen Energie“ steht. Der ungehinderte „Strom der libidinösen Energie“ lässt im Menschen „das unabhängige Wohlbefinden zu“, sagt Gerda Boyesen und „bringt zum Vorschein, was ich die ‚ewigen Werte’ nenne, nämlich Geduld, universelle Liebe und Mitgefühl. Menschen im Libido-Fluss sind in der Lage, eng und harmonisch zusammenzuarbeiten“ und in harmonischen Beziehungen zu leben.

Von großer Bedeutung ist die wohlwollende und positive Grundeinstellung des Therapeuten zum Thema Widerstand. Widerstand wird als „schützend“ anerkannt. Auch das unterscheidet die Biodynamische Körperpsychotherapie von anderen psychotherapeutischen Verfahren. Die direkte Körperarbeit durch sachte Berührungen oder auch durch gezielte in die Tiefe der Muskulatur gehende, auf den „Muskelpanzer“ gerichtete Massagen geht Hand in Hand mit der Arbeit an der psychischen Disposition.

Aufbrechende Gefühle, aktuelle Konflikte, verdrängte Erinnerungen, Träume, spontane Einfälle und kreative Ideen werden – wie in einer tiefenpsychologisch fundierten Therapie üblich – begleitend besprochen und bearbeitet. Das Besondere dabei ist, dass psychische Symptome sich über den Körper selbst ausdrücken und deshalb auch direkt über den Körper erreicht werden können. In diesem Sinn hat jede Berührung in der von Gerda Boyesen entwickelten Biodynamischen Psychotherapie immer das Ziel, Körper, Geist und Seele wieder miteinander in Verbindung zu bringen.
Gerda Boyesen betrachtet das leib-seelische Geschehen als eine Dynamik vegetativer Funktionen, bei denen dem ungehinderten Fluss und der Zirkulation der körpereigenen Flüssigkeiten und Energieströme im System von Lymphen, vegetativem Nervensystem mit Sympathikus und Para-Sympathikus eine besondere Bedeutung zukommt.

Eine ihrer zentralen Entdeckungen ist der Zusammenhang zwischen körperlichen Berührungen und der spontanen Darmperistaltik. Sie hat damit einen neuen Weg der Verringerung und Heilung von neurotischen Störungen gefunden. Diesen charakteristischen psychophysischen Zusammenhang nennt sie „Psychoperistaltik“, weil dieser vegetativ-emotional-kognitive Zusammenhang offenbar in der Lage ist, emotionalen Stress wie unverarbeitete Konflikte, Verdrängungen und traumatische Erfahrungen buchstäblich zu verdauen und damit zu heilen.

Die gezielt eingesetzte und ausgelöste „Psychoperistaltik“ erlaubt es, frühkindliche traumatische Erfahrungen und psychische Störungen zum „Schmelzen“ zu bringen. Ursprünglich starre und verkrustete Vermeidungskonstrukte, die in sog. „Gewebepanzerungen“ gebunden sind, können sich von Innen her umstrukturieren oder werden verdaut. Nach der Vorstellung der Psychotherapeutin geht es in der Therapie darum, „die Schichten eine nach der anderen aufzulösen.“

Im Unterschied zu allen anderen von Wilhelm Reich inspirierten Körpertherapien, wie der „Bioenergetik“ nach Alexander Lowen, besteht Gerda Boyesen auf der unbedingten Sanftheit ihrer Methode. „Ich mag nicht einsehen, dass die Aufarbeitung frühkindlicher Traumata mit Schmerzen verbunden sein sollte“, gab sie gerne zur Antwort und kritisierte ihrerseits provozierende und brachiale Methoden in der Psychotherapie als wenig sinnvoll, da diese zwar für Momente für eine „Katharsis“ oder „Entladung“ sorgen könnten, aber zu keinem organischen Fluss der Energieströme und Körperflüssigkeiten verhelfen würde. „Wir helfen dem Patienten, das zum Vorschein zu bringen, was in seinem Unterbewusstsein und in seinem Körper eingeschlossen ist.“

Gerda Boyesen gilt als einfühlsame Therapeutin und inspirierende Forscherin, die selbst im hohen Alter nicht müde wurde, die Erfahrungen ihrer klinischen Praxis zur Weiterentwicklung ihrer Theorien, Modelle und Methoden zu nutzen. Im Laufe der letzten 30 Jahre entwickelte sie gemeinsam mit ihren Töchtern Ebba Boyesen und Mona Lisa Boyesen unter dem Namen „Biodynamik“ ein breites Spektrum differenzierter Theorien und Behandlungsmethoden. Zusammen mit ihren Töchtern hat Gerda Boyesen in den letzten 40 Jahren einige tausend biodynamischer Körperpsychotherpeuten ausgebildet. Ebba Boyesen und Mona Lisa Boyesen haben 1994 in Lübeck ESBPE, ein Ausbildungsinstitut für biodynamische Psychologie und Körperpsychotherapie, gegründet und die europäische Anerkennung dieser Ausbildung durch die EABP (European Association of Body Psychotherapy) erworben. Gerdas Sohn, Paul Boyesen, ist der Begründer des Institutes für PsychoOrganische Analyse und Vizepräsident der EAP (European Association of Psychotherapy).

Gerda Boyesens Arbeit findet weltweit und auch hierzulande ein großes Echo. Biodynamische Psychotherapie gilt mittlerweile als großes eigenständiges Verfahren der Psychotherapie neben den klassischen Verfahren.

Gerda Boyesens Leben war geprägt von der unermüdlichen Arbeit mit Patienten einerseits und ihrer Tätigkeit als leidenschaftliche Lehrerin. Sie gründete 1969 das erste Biodynamische Zentrum in London und sie leitete bis ins hohe Alter Ausbildungs – und Supervisionsgruppen.

1999 wurde Gerda Boyesen mit der Ehrenmitgliedschaft der European Association for Bodypsychotherapy (EABP) für ihr Lebenswerk geehrt.

Gerda Boyesen war Ehrenpräsidentin der Gesellschaft für Biodynamische Psychologie/Körperpsychotherapie, GBP e.V., dem deutschen Berufsverband der Biodynamischen Körperpsychotherapeuten.

Gerda Boyesen starb im Dezember im Alter von 83 Jahren in London.

Dr. Jörg Bockow


Literatur:

- Boyesen, Gerda: Über den Körper die Seele heilen, Kösel Verlag, München 1987
- Boyesen, Mona Lisa und Gerda: Biodynamik des Lebens – Die Gerda Boyesen Methode, Synthesis, Essen 1987
- Boyesen, Gerda: Von der Lust am Heilen – Quintessenz meines Lebens, Kösel Verlag, München 1995
- Boyesen, P. C.: Eigentlich möchte ich, Kösel Verlag, München 1991
- Eberwein, W.: Impulse von Innen: Biodynamik, Körperpsychotherapie zur Heilung und Selbstfindung, Transform Verlag, Oldenburg 1990
- Maul, Bernhard: Körperpsychotherapie oder die Kunst der Begegnung, Bernhard Maul Verlag, Berlin 1992
- Sandner, B.: Theoriebildung in der Biodynamik, in: Energie und Charakter, Heft 11, Juni 1995, Bernhard Maul Verlag, Berlin
- Zundel, Edith und Rolf: Leitfiguren der Psychotherapie – Gerda Boyesen, in: DIE ZEIT No. 47, 14. November 1986

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